Manche Entwicklungen scheinen nicht erklärbar. Eine CHE Analyse hat ergeben: Die Zahl der Studiengänge in Deutschland erreicht mit fast 23 000 eine Rekordhoch – trotz stark gesunkener Erstsemesterzahlen in den vergangenen Jahre. Paradox und zweifelhaft: Auf weniger Studierende reagieren die Hochschulen mit mehr Studienangeboten
Die Zweifel an der Managementkompetenz der Hochschulleitungen erscheinen naheliegend. Zumindest, wenn man auf der Ebene der knackigen Schlagzeile bleibt und nicht in die Detailzahlen und Entwicklungen schaut. Während der Wirtschaftskrise in Griechenland 2008 fuhren weniger Leute zur Arbeit. Die Luftverschmutzung in Athen ging überproportional zurück, bei sauberer Luft gibt es weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle. Die Bevölkerung ist gesünder. Alles plötzlich gar nicht mehr so paradox.
Das gilt für die Entwicklung des Studienangebotes in Deutschland: Ein Teil des Zuwachses geht darauf zurück, dass ein Programm in mehreren Formaten angeboten wird, zum Beispiel als Voll- und Teilzeitstudium. Es erscheint also doppelt in der Statistik. Die Studierenden dieser Studiengänge sitzen letztlich aber alle im selben Hörsaal und es besteht die Chance, Studierende mit Familienverantwortung durch Teilzeit besser zu erreichen und Studiengänge besser auszulasten. Auch neue themenbezogene Studienangebote erscheinen sinnvoll. Hochschulen stricken zum Beispiel aus verschiedenen Fächern einen Studiengang zur Nachhaltigkeit, der als attraktives Angebot Studierendenpotenziale erschließen kann. Einige private Hochschulen schaffen neue Online-Studiengänge für Berufstätige. Auch hier werden neue Zielgruppen erreicht und Studierendenzahlen steigen. Und schließlich zeigt sich in Bezug auf bestimmte Fächer, dass die Zahl der Programme und der Studierenden sich parallel entwickeln, zum Beispiel in der Psychologie.
Neue zusätzliche Studiengänge können also vielfältig dazu beitragen, den Abwärtstrend der Studierendenzahlen zu stoppen. Aber Hochschulen sollten auch Wege wählen, die zu weniger Studienangeboten führen. Wenn bestimmte Angebote an verschiedenen Standorten unterhalb kritischer Massen ausgelastet sind, könnte sich eine Fusion der Studiengänge anbieten. Oder ein neuer, stärker missionsorientierter Studiengang löst eben einfach den alten ab. Neue interdisziplinäre Studiengänge könnten auch ein Anlass sein, die bisherigen disziplinären Angebote auf den Prüfstand zu stellen. Die wachsende Gesamtzahl der Studienprogramme weist darauf hin, dass all dies womöglich nicht in ausreichendem Umfang passiert.
Studierendengewinnung durch neue Studienangebote bleibt eine komplexe Aufgabe für Lehrende und Hochschulmanagement. Würden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, würden sich die Angebote vermutlich weniger stark nach oben entwickeln. Das Beispiel der vermeintlich paradoxen Studienangebotsentwicklung zeigt für mich zweierlei: Man muss genau hinschauen und darf mit einfachen Zahlen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Und in jeder Herausforderung liegt auch die Möglichkeit, positive Effekte mitzunehmen. Womöglich bleiben die Athener heute mehr im Homeoffice, dann hätten wir weniger Luftverschmutzung – auch ohne Wirtschaftskrise.
erschienen in DUZ Wissenschaft & Management, Ausgabe 10/2024, S. 9